Die Handlung spielt in der Ukraine in einer fiktiven Zukunft. Der Krieg, der 2014 mit der Annexion der Krim begann, ist zu Ende, und der Erste Intereuropäische Gerichtshof wird unter dem Vorsitz der deutschen Richterin Margarethe Bauer mit einem spektakulären Fall eröffnet. Das Verfahren symbolisiert eine neue Form der Rechtsprechung, die das gesellschaftliche Zusammenleben nach dem Krieg ermöglichen und die Grundlage für Frieden und Freiheit sein soll.

Angeklagt ist Orest, ein verdienter ukrainischer Soldat, der sich schon vor dem Verfahren mit der Bitte um einen gerechten Prozess an die Öffentlichkeit gewandt hat. Er wird beschuldigt, seine Mutter Kateryna Horets und seinen Onkel Pavel Davydov, der aus Russland in das Haus der Familie kam, ermordet zu haben. Orest streitet die Tat nicht ab, rechtfertigt sie aber mit der Rache für den Mord an seinem Vater Ivan Horets. Orest bezichtigt den Onkel und die Mutter des Ehebruchs und wirft ihnen wiederum vor, seinen Vater nach dessen Heimkehr als Kriegsveteran brutal getötet zu haben.

Vertreten wird Orest vor Gericht durch seine Schwester, die Anwältin Svitlana Horets, die zu Beginn des Krieges nach Deutschland geflohen ist, um dort Jura zu studieren. Während des Prozesses, in den die gesamte Familie verstrickt ist, werden die Beteiligten immer wieder von einer Vergangenheit, die nicht vergangen ist, heimgesucht. Die Realitäten vermischen sich. Die unbewältigten Traumata des Krieges wirken in die Gegenwart hinein und verleihen ihr alptraumhafte Züge. Die Geister der Toten und aus dem antiken Mythos erheben sich aus der archäologischen Ausgrabungsstätte, auf der der Gerichtshof erbaut wurde. Agamemnons Geist kehrt in Gestalt des getöteten Ivan Horets zurück.

Der Schatten Klytaimestras und der ermordeten Kateryna Horets manifestieren sich im Körper der Staatsanwältin Katherina Horn. Die Geschworenen erscheinen als Wiedergängerinnen der Erinyen, antike Rachegeister, die Orest verfolgen, um den Muttermord zu sühnen. In dieser Inszenierung werden sie von Ukrainerinnen dargestellt, die heute in Düsseldorf leben, und die ihre eigenen Geschichten mitbringen. In den Pausen des Gerichtsverfahrens beleuchten sie anhand von Zeitzeuginnenberichten immer wieder eindringlich die Konsequenzen, die der Krieg für Frauen hat: Was bedeutet es, wenn die Männer in den Krieg ziehen? Wie kommt es zur Kollaboration mit dem Feind? Und wie wird sexuelle Gewalt zur Kriegswaffe?

Die Überschreibung der ukrainischen Regisseurin und Autorin Tamara Trunova basiert auf der »Orestie«, in der Aischylos schon vor rund 2500 Jahren die Gründung eines neuen rechtsstaatlichen Systems thematisiert und Grundfragen der menschlichen Existenz und der Demokratie verhandelt. Tamara Trunova verbindet Passagen aus der antiken Tragödie mit einem fiktiven Familiendrama, das in der Zukunft spielt, und fügt aktuelle dokumentarische Texte hinzu, um hier und jetzt die Frage über ein Zusammenleben nach dem Krieg neu zu stellen.

Mit der Gründung eines auf Vernunft basierenden, staatlichen Rechtssystems und dem Freispruch Orests wird am Ende von Aischylos’ »Orestie« eine neue Rechtsform etabliert und die archaische Blutrache abgeschafft. Heute lässt sich die Schuldfrage im juristischen Sinne zwar klar beantworten, aber befriedigt der Schuldspruch das Bedürfnis der Opfer nach Sühne und Gerechtigkeit? Der Erste Intereuropäische Gerichtshof kann hier keine Antworten geben. Es folgen vielmehr neue Fragen, und das letzte Wort haben die unversöhnten Erinyen.

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